Stolpersteine erinnern an ihr Schicksal

 

Am Sonnenabend, den 2. Oktober 2021, um 11 Uhr wurden in Iselersheim zwei so genannte "Stolpersteine" zur Erinnerung an das Schicksal von Annemarie Gerken und Stefan Szablewski gesetzt.

 

Der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 2020 erinnerte Hermann Röttjer vom Heimatverein Iselersheim an das Schicksal einer Einwohnerin der Ortschaft Iselersheim. Annemarie Gerken war auf einem Bauernhof in Badenhorst bei Elsdorf tätig, "in Stellung", wie man früher sagte. Auf dem Hof war auch der polnische Kriegsgefangene Stefan Szablewski aus dem Lager Sandbostel X B als Arbeiter eingesetzt. Die Zuneigung der beiden zueinander führte dazu, dass Annemarie ein Kind erwartete.

Nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten und insbesondere nach den so genannten "Polen-Erlassen" vom 8. März 1940 war der intime Verkehr zwischen Deutschen und Polen jedoch verboten und stand unter Androhung der Todesstrafe. Das Verhältnis der beiden ist der Umgebung nicht verborgen geblieben. Im Februar 1941 wurde Stefan Szablewski deshalb von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) festgenommen und ins Gerichtsgefängnis nach Bremerhaven-Lehe gebracht. Am 29. Juli 1941 wurde er auf den Hof in Badenhorst zurückgebracht und hier durch Erhängen öffentlich hingerichtet. Hunderte Gefangene aus der näheren und weiteren Umgebung mussten sich das schreckliche Schauspiel als Abschreckungsmaßnahme mit ansehen. 

Annemarie Gerken musste den Hof verlassen und war bis kurz vor der Entbindung in einem Bremervörder Haushalt tätig. Im Mai 1941 bekam sie im Bremervörder Krankenhaus einen Sohn, der auf den Namen Wilfried getauft wurde. Nach der Entlassung kehrte Annemarie mit ihrem Kind auf den elterlichen Hof in Iselersheim zurück. 10 Wochen nach der Entbindung musste sie jedoch Eltern und Kind verlassen und ihren Dienst als Hausgehilfin in der Heeresmunitionsanstalt in Zeven-Aspe antreten. Um ihr Kind kümmerten sich von nun an die Großeltern. Aber bereits kurze Zeit später, am 31. Juli 1941, zwei Tage nach der Ermordung ihres Freundes, greift der NS-Staat auch bei Annemarie durch. Sie wird von der Gestapo abgeholt und ebenfalls ins Gerichtsgefängnis nach Bremerhaven-Lehe gebracht. Von hier erfolgte im September 1941 eine Verlegung in ein Bremer Gefängnis. Später kommt sie ins Konzentrationslager (KZ) für Frauen nach Ravensbrück nördlich von Berlin und irgendwann ins KZ nach Auschwitz. Am 27. Februar 1943 stirbt Annemarie Gerken hier mit nur 24 Jahren. Die Familie erfährt erst Wochen später davon. Am 23. März 1943 erscheint eine Todesanzeige in der Bremervörder Zeitung. Der Familie wurde eine Urne mit den sterblichen Überresten von Annemarie übersandt. Im Familienkreis wird die Urne auf dem (alten) Friedhof in Iselersheim beigesetzt.

 

Wilfried Gerken wuchs bei den Großeltern in Iselersheim auf und besuchte hier auch die einklassige Dorfschule. Nachdem jedoch seine Großeltern, Karsten Gerken und seine Frau Lucie, bald nacheinander 1949 und 1951 verstarben, Wilfried war neun Jahre alt, wurde er mit Unterstützung einer amerikanischen Hilfsorganisation, die sich um Kinder von Opfern des NS-Regimes kümmerte und um deren Ausreise bemühte, zu einem kinderlosen Onkel nach Amerika gebracht. Was mag wohl in dem kleinen Jungen vorgegangen sein, wie mag er sich gefühlt haben, als man ihn 1951 von Bremerhaven aus mit einem amerikanischen Kriegsschiff ganz allein in die fremde Welt nach Amerika brachte?

Wilfried passte sich der neuen Umgebung an, Kontakte zur Deutschen Heimat verblassten. Die Deutsche Sprache ging ihm verloren. Deutschland sah er nie wieder. Er gründete eine Familie, bekam Kinder.

 

Heute, 76 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, ist die Erinnerung an das Schicksal von Annemarie Gerken und ihren Freund, überhaupt an die schrecklichen Ereignisse während der NS-Herrschaft und des 2. Weltkrieges für viele nur noch aus Erzählungen der Eltern und Großeltern bzw. aus dem Schulunterricht und den Geschichtsbüchern bekannt. Nur sehr wenige Menschen in Iselersheim kennen die Geschichte um Annemarie Gerken.

 

Der Heimatverein Iselersheim möchte mit der Setzung der beiden „Stolpersteine“ dazu beitragen, dass das Schicksal von Annemarie Gerken und Stefan Szablewski unvergessen bleibt. Sie sollen uns allen aber auch Mahnung sein, Demokratie und Menschenrechte zu wahren!

 

Der Heimatverein Iselersheim fühlt sich hier besonders verpflichtet, weil das alte Friedhofsgelände im Eigentum des Heimatvereins ist. Bereits Mitte der 1950er Jahre wurde der Friedhof im Ortsmittelpunkt aufgegeben und etwas abseits ein neuer Friedhof angelegt. Im Zuge der Planungen für die 200-Jahrfeier der Ortschaft Iselersheim 1980 wurde eine Umgestaltung des Ortsmittelpunktes vorgenommen und der größte Teil des alten Friedhofes geschleift, die Grabsteine wurden abgeräumt.

1958 erfolgte der Bau der Findorff-Kirche auf dem älteren Teil des Friedhofsgeländes. 2004 erwarb der Heimatverein Iselersheim den übrigen Teil des Geländes und errichtete hierauf das Findorff-Haus, ein Museum und Kulturstätte.

Auch wenn der genaue Ort des Urnengrabes von Annemarie Gerken heute nicht mehr bekannt ist (Grabpläne gibt es leider nicht mehr), sollen die "Stolpersteine" in unmittelbarer Nähe zum ungefähren Ort auf dem Gehweg vor dem Findorff-Haus in das Pflaster eingesetzt werden.

 

Die Setzung der beiden Gedenksteine ("Stolpersteine" = Messingköpfe mit Inschrift) wurden von dem Initiator für das Projekt "Stolpersteine", dem Künstler Gunter Demnig, persönlich vorgenommen, sind es doch die ersten auf dem Gebiet der Stadt Bremervörde. "Stolpersteine" gibt es inzwischen in vielen Ländern Europas. 2018 waren es bereits 70.000 in 2.000 Kommunen in Europa.

 

Zu der öffentlichen Verlegung ist als besonderer Ehrengast Brian Gerken, der Enkel von Annemarie Gerken und Stefan Szablewski, aus Amerika angereist.

Als Vertreterin des polnischen Staates nahm die Konsulin Malgorzata Kacprzyk von Konsulat in Hamburg an der Feier teil. 

 

Ablauf der Gedenkveranstaltung am Sonnabend, den 2. Oktober 2021, ab 11 Uhr:

- Begrüßung durch Hermann Röttjer, Vorsitzender des Heimatvereins und

   Ortsbürgermeister von Iselersheim

- Setzung der beiden Stolpersteine durch Herrn Gunter Demnig

- Grußworte von Konsulin Malgorzata Kacprzyk

- Kurzvortrag Jan Dohrmann, Gedenkstätte Lager Sandbostel

- Dankesworte von Regina Bastein, Großnichte von Annemarie Gerken

- Gebet Pastor Simon Laufer, Kirchengemeinde Iselersheim

- Musikalische Begleitung durch Sonja Haack aus Iselersheim 

 

 

Mit dem Initiator des Stolperstein-Projekts, Gunter Demnig, wird der genaue Platz für die Gedenktafeln besprochen. 

Die Steine werden eingesetzt. Herbert Schröder aus Iselersheim unterstützt Gunter Demnig bei der Arbeit.

 

Aufmerksamer Beobachter ist Brian Gerken, der Enkel von Annemarie Gerken und Stefan Szablewski.

An der feierlichen Zeremonie auf dem Rasen des Findorff-Hauses in Iselersheim nahmen ca. 130 Familien-mitglieder und Interessierte  teil. 

Als Ehrengast war Brian Gerken aus den USA angereist. 

Es war sein erster Besuch in Europa. Nach dem Kennenlernen seiner deutschen Verwandten wird er in die polnische Heimat seines Vaters reisen und dort das KZ Auschwitz besuchen, in dem seine Großmutter zu Tode kam. 

Hermann Röttjer begrüßt als Vorsitzender des Heimatvereins und Iselersheimer Ortsbürgermeister die Gäste und interessierten Beobachter der Zeremonie.

Für den polnischen Staat nahm Konsulin Malgorzata Kacprzyk vom polnischen Konsulat in Hamburg an der Gedenkfeier teil. 

Jan Dohrmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel, beschrieb in seinen Ausführungen die Lebensumstände der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in der NS-Zeit.  

Regina Bastein, Großnichte von Annemarie Gerken, bedankte sich im Namen der Familie mit bewegenden Worten bei allen, die sich dafür eingesetzt haben, dass das Schicksal ihrer Großtante und ihres polnischen Freundes durch die Stolpersteine nicht in Vergessenheit geraten. 

Sonja Haak aus Iselersheim begleitete die Gedenkfeier musikalisch auf dem Akkordeon.

Simon Laufer, Pastor der Kirchengemeinde Iselersheim sprach zum Abschluss der Feier ein persönliches Gebet für Brian Gerken.

Die Stolpersteine sind im Gehweg vor dem Findorff-Haus verlegt und erinnern an das Leben und gewaltsame Sterben von Annemarie Gerken und Stefan Szablewski.

Sie mahnen und erinnern uns daran, dass der demokratische Staat, in dem wir in Deutschland leben für frühere Generationen nicht selbstverständlich war und auch heute vor Bedrohungen von rechts und links geschützt werden muss - von uns allen, Tag für Tag.